Gesetzlich erlaubte vs. vertraglich vereinbarte Nutzung

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I. § 60g UrhG

§ 60g UrhG regelt das Verhältnis zwischen den Schrankenbestimmungen und vertraglich eingeräumten Nutzungsrechten. Die Tatsache, dass der Gesetzgeber bestimmte Nutzungshandlungen explizit in den Schrankenregelungen aufgenommen und damit für „erlaubnisfrei“ erklärt hat, wirft die Frage auf, inwieweit über solche Handlungen (zusätzlich) vertragliche Vereinbarungen getroffen werden können.

1. Ansicht (non-commercial)3 2. Ansicht (no-derivatives)4
Die Schrankenbestimmungen der §§ 60a-60h UrhG umschreiben den Umfang der dem Rechtsinhaber ausschließlich zugewiesenen Nutzungsbefugnisse abschließend. Dies hat zur Folge, dass die gesetzlich bereits geregelten Nutzungshandlungen von den Parteien nicht disponibel sind.
Sofern §§ 60a-60h UrhG als dispositive Normen verstanden werden, können zumindest solche Bestimmungen, die vom Gesetzgeber nicht als unabdingbar ausformuliert sind, durch abweichende vertragliche Vereinbarungen von den Parteien ausgestaltet werden.



Lösungsansätze:
Europäischer Gerichtshof (EuGH) zur „Terminal-Schranke“, § 60e Abs. 4 UrhG:
Die Schranke sei nur dann ausgeschlossen, wenn tatsächlich ein Lizenz- oder Nutzungsvertrag geschlossen worden ist, in der die Bedingungen für die Nutzung des Werkes durch die Einrichtung festgelegt sind. Der Gerichtshof nimmt somit einen faktischen Vorrang der gesetzlichen Schranken an, da es für den/die jeweilige Nutzer:in wie z.B. eine Bibliothek nicht in Frage kommt, einen für sie „ungünstigeren“ Vertrag abzuschließen.
--> Im Übrigen obliege die Entscheidung über das systematische Verständnis der Schranken bei den Mitgliedstaaten.1

Bundesgerichtshof (BGH):
Dieser hat seine vormals vertretende Auffassung der vertraglichen Abdingbarkeit (d.h. individuelle Regelungsfähigkeit) – betreffend die Schranken nach §§ 60a-60f UrhG – aufgegeben.2 Das bedeutet, dass die gesetzlichen Schranken Vorrang genießen. Dabei geht der BGH sogar so weit, dass er einen Vertragsvorbehalt auch für solche gesetzlichen Regelungen vorgesehen hat, in denen dieser nicht ausdrücklich erwähnt wird und zwar dann, wenn er dies für geboten hält, um dem gesetzlichen Regelungszweck gerecht zu werden.3
§ 60g UrhG regelt in Abs. 1 nunmehr den Vorrang der Schrankenregelungen hinsichtlich der Nutzungen nach §§ 60a-60f. Außerdem werden dadurch Vereinbarungen zu Lasten der Nutzungsberechtigten wie Beschränkungen oder Untersagungen als unwirksam erachtet. Zusätzliche neutrale oder gar vorteilhafte vertragliche Vereinbarungen werden jedoch nicht per se ausgeschlossen.
Abs. 2 bestimmt, dass vertragliche Vereinbarungen vorgehen, die ausschließlich:

  • die Zugänglichmachung von Terminals (§§ 60e Abs. 4 und 60f Abs. 1)
  • den Versand von Kopien auf Einzelbestellung (§ 60e Abs. 5)

zum Gegenstand haben. Die gesetzlich erlaubten Nutzungshandlungen treten demnach hinter Vertragsvereinbarungen zurück (Lizenzvorrang).4

Fazit:
Es ergibt sich daher – von den Ausnahmen in §§ 60e Abs. 4, 5 und 60f Abs. 1 UrhG abgesehen – ein grundsätzlicher Vorrang der gesetzlichen Nutzungserlaubnisse.


II. §§ 44a ff. UrhG

Das Verhältnis anderer gesetzlicher Erlaubnistatbestände gemäß §§ 44a - 60 UrhG zu vertraglichen Individualvereinbarungen ist von der Reichweite des § 60g Abs. 1 UrhG nicht umfasst. Hiervon betroffen sind z.B. das Zitatrecht nach § 51 UrhG, die Kopierschranken gemäß § 53 UrhG und die sog. Panoramafreiheit nach § 59 UrhG.
Auch hierbei ist fraglich, inwieweit vertragliche Nutzungsbeschränkungen durch Anbieter:innen urheberrechtlich geschützter Werke den allgemeinen Schranken vorgehen können. Zu differenzieren sind dabei auf der eine Seite frei ausgehandelte Individualvereinbarungen und für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsvereinbarungen (AGB) auf der anderen Seite. Erstere sind grundsätzlich zulässig, solange die gesetzliche Reglung nicht ausgehöhlt wird. Im Falle von AGB sind Beschränkungen der gesetzlichen Erlaubnistatbestände insoweit unzulässig, als dass die jeweilige Schranke nach ihrem Sinn und Zweck unabdingbar ist. Zum anderen sind beschränkende AGB auch dann unzulässig, wenn sie den/die Vertragspartner:in entgegen von Treu und Glauben unangemessen benachteiligt, vgl. § 307 Abs. 1 BGB.
Dies ist nach § 307 Abs. 2 Nr. 1 BGB im Zweifel dann anzunehmen, wenn eine Bestimmung „mit dem wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Reglung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist“ oder nach Nr. 2 „wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrages ergeben, so eingeschränkt werden, dass die Erreichung des Vertragszweckes gefährdet ist.“ Übertragen auf eine Beschränkung der §§ 44a ff. UrhG bedeutet dies, dass ein in AGB ausgehandelter Ausschluss in der Hinsicht nicht zulässig sein dürfte, in welcher die Regelung ein überragendes Interesse der Allgemeinheit und grundrechtliche Aspekte tangiert.5
Das UrhG erklärt darüber hinaus folgende Schrankenbestimmungen für unabdingbar und damit nicht disponibel:6

  • § 55a UrhG – Bearbeitung und Vervielfältigung von Datenbankwerken, wenn und soweit die vorgenannten Handlungen für den Zugang zu den Elementen des Datenbankwerkes erforderlich ist
  • § 69d Abs. 2, 3, 5 oder 7 UrhG – Erstellung einer für die zukünftige Nutzung erforderlichen Sicherungskopie und Prüfung der Funktionstüchtigkeit eines Programms, um zugrundeliegende Ideen und Grundsätze zu ermitteln, vgl. § 69g Abs. 2 UrhG
  • § 69e UrhG – (unerlässliche) Vervielfältigung oder Übersetzung des Codes, um Informationen zur Herstellung der Interoperabilität eines unabhängig geschaffenen Computerprogramms mit anderen Programmen zu erhalten, vgl. § 69g Abs. 2 UrhG
  • § 87e i.V.m. § 87b UrhG – die Möglichkeit der Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Wiedergabe von unwesentlichen Teilen (max. 15 %) einer Datenbank im Einklang mit den berechtigten Interessen des Datenbankherstellers und zur „normalen“ Auswertung der Datenbank
  • § 95b Abs. 1 S. 2 UrhG – unterstützende Verpflichtung zur Verfügungstellung von Umgehungsmöglichkeiten.



II. § 60h UrhG - Vergütungspflicht bzw. -freiheit gesetzlich erlaubter Nutzung7

1. Grundsatz: Vergütungspflicht

  • § 60 h Abs. 1 S. 1 UrhG: Anspruch auf angemessene Vergütung von Nutzungshandlungen nach §§ 60a-60f UrhG
  • Anwendung für Vervielfältigungen und Abrechnung über §§ 54-54c UrhG, vgl. § 60h Abs. 1 S. 2 UrhG
  • Nicht über dieses System vergütet werden: „Alle anderen Nutzungsarten“ (in Abgrenzung zur Vervielfältigung)
--> insb. öffentliche Zugänglichmachungen, welche gesondert über Gesamtverträge oder Verwertungsgesellschaften vergütet werden


2. Ausnahmen: Vergütungsfreie Nutzungen (§ 60h Abs. 2 UrhG)

  • Nr. 1: Öffentliche Wiedergabe von Bildungseinrichtungen
BEACHTE: Öffentliche Zugänglichmachungen sind weiterhin vergütungspflichtig, § 60a Abs. 1 Nr. 1-3, Abs. 2 UrhG
  • Nr. 2: Bestandsvervielfältigungen durch Bibliotheken, Archive, Museen und Bildungseinrichtungen, §§ 60e Abs. 1, 60f Abs. 1 UrhG
  • Nr. 3: Text und Data Mining zum Zwecke wissenschaftlicher Forschung, § 60d Abs. 1 UrhG


3. Geltendmachung:
Die Geltendmachung der gemäß § 60h Abs. 1 i.V.m. §§ 60a-d, 60e-f UrhG bestehenden Vergütungsansprüche obliegt nach § 60h Abs. 4 UrhG allein der jeweiligen Verwertungsgesellschaft wie z.B. der VG Wort.
Anspruchsinhaber:innen sind jedoch die Urheber:innen. Anspruchsschuldner:in ist grundsätzlich der/diejenige, die im Rahmen einer vergütungspflichtigen gesetzlichen Schrankenbestimmung die dort erlaubte Nutzungshandlung vornimmt. Abs. 5 des § 60h UrhG räumt Unsicherheiten im Rahmen einer Nutzung über eine Einrichtung/Institution aus.

Quellen


[1] EuGH C-457/11 – C-460/11.

[2] BGH, GRUR 2008, 245, Rn. 23 – Drucker und Plotter; BGH GRUR 2014, 979 Rn. 45 – Drucker und Plotter III.

[3] BGH, GRUR 2014, 549 Rn. 58 – Meilensteine der Psychologie.

[4] Dreier/Schulze, in: UrhG/VGG/KUG-Kommentar, 7. Auflage 2022, § 60g UrhG, Rn. 1-3.

[5] Dreier/Schulze, in: UrhG/VGG/KUG-Kommentar, 7. Auflage 2022, Vorb. zu § 44a UrhG, Rn. 9.

[6] Dreier/Schulze, in: UrhG/VGG/KUG-Kommentar, 7. Auflage 2022, Vorb. zu § 44a UrhG, Rn. 9.

[7] Dreier/Schulze, in: UrhG/VGG/KUG-Kommentar, 7. Auflage 2022, § 60h UrhG, Rn. 2-8a.

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